Mittwoch, 18. November 2015

Marius


Es gäbe viele Gründe zu sagen, dass Marius und seine Geschichte nicht auf diese Seite passen. Seine Familie und er wohnen in Dortmund. Im Gegensatz zu Jojo, der seit 17 Jahren auf der Straße lebt, hat Marius eine Wohnung. Und auf den ersten Blick ist die Geschichte von Marius eine Geschichte, wie er sie möglicherweise mit vielen anderen Menschen teilt. Aber macht es sie deswegen weniger spannend? Nein! Und dass Marius nicht in Münster lebt, das stimmt auch nur teilweise. Denn er ist fast jeden Tag hier. Und wer abends durch den Hamburger Tunnel am Hauptbahnhof geht, der kommt früher oder später an Marius vorbei. Für mich gehört Marius dazu.
Bevor ich ihn überhaupt sehe, höre ich die Musik seines Akkordeons. Die Lambada-Melodie hallt durch den gesamten Tunnel, ich mag es.
Trotzdem - ich wollte den Tunnel einfach nur durchqueren, mir auf der anderen Seite eine Cola holen und dann mal sehen. Als ich auf seiner Höhe bin, treffen sich unsere Blicke. Man sagt mir nach, ich würde manchmal etwas grimmig dreinblicken. Aber Marius lächelt mich trotzdem an. Einfach so! Könnt Ihr Euch daran erinnern, wann Ihr das letzte Mal durch die Stadt gelaufen seid und Euch jemand einfach so angelächelt hat? Ohne Grund. Einfach, weil sich Blicke treffen. Ich glaube, das passiert einfach sehr selten. Marius hat es getan und damit meine Neugier geweckt.
Als er bemerkt, dass ich gerne mit ihm reden würde, unterbricht er sein Spiel. Bei der Begrüßung bemerke ich, dass er nur gebrochen deutsch spricht. Aber es reicht letztendlich, um ihm mein Anliegen zu erklären. Seine Stimme ist ruhig und er wirkt schüchtern. Anfangs ist er noch etwas misstrauisch und vielleicht ist ihm auch noch nicht richtig klar, worauf ich hinaus möchte. Nach kurzer Zeit aber huscht immer mal wieder ein Lächeln über Marius' Gesicht und er wird lockerer. Ich finde ihn auf Anhieb unglaublich sympathisch! Und dennoch merkt man ihm die ganze Zeit über an, dass -so sehr er das Gespräch und das Interesse genießt- er gerne schnell wieder Akkordeon spielen möchte.
Marius ist 25 Jahre alt und gebürtiger Rumäne. Er kam in Bacău, 2000 Kilometer von Münster entfernt zur Welt. Dort hat er auch die Schule besucht. Vom siebten bis zum 15. Lebensjahr. Eine Ausbildung, oder ein Studium im Anschluss gab es nicht. Er wohnte bei seinen Eltern, über die wir im Laufe des Gespräches öfter reden.
Im Jahr 2004 kommt Marius mit seiner Mutter nach Frankfurt am Main. Aber seine Mutter, so verstehe ich es, findet das erhoffte Glück nicht und kehrt bald zurück nach Rumänien. Marius hingegen bleibt bis 2008 in Frankfurt. Dann zieht es ihn in die Niederlande. Dort wohnt inzwischen sein Vater. "Ja, seine Eltern seien immer noch verheiratet.", antwortet Marius auf meine Frage. Sein Vater ist auch Musiker, erzählt er mir. Er spiele Trompete - so hätten sie jahrelang gemeinsam auf der Straße Musik gemacht.
Vor acht Jahren lernte Marius im Urlaub in der Heimat seine heutige Ehefrau kennen. Geheiratet haben sie damals in Rumänien, aber ihre Familie wohnt mittlerweile ebenfalls in Deutschland. Stolz erzählt mir Marius, dass er und seine Frau inzwischen zwei Söhne miteinander hätten und er zeigt mir seinen Ehering.
Ich frage ihn, ob er von der Musik leben könne und ob er vorher schon etwas anderes versucht habe. Marius erzählt mir, dass er tagsüber noch an einem anderen Ort spiele und dann am frühen Abend im Hamburger Tunnel beginnen würde. Seine Frau und er bekommen Kindergeld und er hat einen "Minijob", erzählt Marius. Mit der Musik verdient er sich etwas dazu.
 Er habe mal ein Diplom für eine Tätigkeit als Fensterputzer gemacht, erzählt er. Aber einen Job? Nein, den hätte er nicht bekommen. Als ich nachfrage merke ich, dass er unglaublich gerne einen Beruf ausüben würde. Ich denke, Marius liebt die Musik und dass die Menschen ihm dabei zuhören. Aber noch mehr würde er es wohl lieben, wenn er nicht erst jeden Tag am späten Abend bei seiner Familie wäre. Denn in Dortmund kann er seine Musik nicht machen. Dort sei die Konkurrenz zu groß, sagt er.
Ich muss an Jojo, den Obdachlosen denken, der schön öfter auf der Straße "zerlegt" wurde und frage Marius, ob ihm das auch passieren würde. Dass Leute ihn anpöbeln, angreifen, oder sein Geld nehmen. Seine Antwort lässt vieles offen. Mein persönlicher Eindruck ist, dass er diese Kehrseiten mit einkalkuliert und akzeptiert hat. Ob ihm tatsächlich jemals etwas in der Art passiert ist... Ich weiß es nicht. Aber Marius versichert mir, er würde sich in Deutschland sehr sicher fühlen und der Einzige, vor dem er Angst habe, sei Gott. Marius ist orthodox erzogen und sehr religiös. Mit seiner Frau und seinen Kindern geht er jeden Sonntag in die Kirche. Vielleicht ist es auch dieser tief verwurzelte Glaube, der ihn nicht mit dem Finger auf andere zeigen und schnell vergeben lässt.
Ich merke, dass Marius ungeduldig wird. Zeit ist Geld für ihn, das kann ich ihm nicht verübeln. Zu gerne hätte ich mich noch weiter mit ihm unterhalten und mehr über ihn erfahren. So bleiben Fragen offen und Dinge ungesagt. Zum Schluss frage ich ihn, ob seine Kinder überhaupt ihre Großeltern kennen würden. "Ja, wir sehen uns alle regelmäßig." sagt Marius lächelnd. Ich bin schon wieder beeindruckt. Den ganzen Tag steht dieser Mann auf der Straße, spielt auf seinem Akkordeon und tänzelt dazu lächelnd von einem Fuß auf den anderen. Zuhause warten seine Frau und seine zwei Söhne. Keine Spur von Missmut, sondern echte Zuversicht, Freude und Höflichkeit, wie man sie nur allzu selten erlebt.
Ich mache noch einige Fotos von Marius, dann lege ich ihm zum Abschied die Hand auf die Schulter und lasse ihn spielen. Widerwillig, das gebe ich zu. Und doch habe ich einmal mehr einen Menschen getroffen, der uns ein Beispiel sein kann, wenn wir es denn wollen.

Danke Marius, für deine Zeit und die Zuversicht!
































































Freitag, 30. Oktober 2015

Sookie

Wir sind verabredet, ich bin zu früh. Ich bleibe noch einen Moment im Auto sitzen, den vereinbarten Treffpunkt in Sichtweite. In meinem Kopf rauscht es, ein Gedanke jagt den anderen. Sie hat mir geschrieben, dass sie aufgeregt ist. Dass ich es auch bin, habe ich verschwiegen - bitte entschuldige diese kleine Unehrlichkeit.
Dann steht der große Zeiger auf der Sechs. Ich steige aus, schnappe mir meine Kamera, das kleine Notizbuch und einen Stift. Alles, was ich zuvor von ihr gesehen habe, ist ein Profilbild bei Facebook. Ich erkenne sie schon von Weitem. Minirock, Stiefel, über dem grünen Top eine pinke Jacke. Im Haar eine Blüte in der Farbe der Jacke und um den Hals ein buntes Tuch.
Da ich mir in meiner grauen Strickjacke und den Jeans etwas unauffälliger vorkomme, gebe ich mich durch Winken zu erkennen - sie kommt mir entgegen. Als Sookie vor mir steht und ich ihr die Hand reiche, bin ich so beeindruckt von dieser Erscheinung, dass ich für einen kurzen Moment vergesse, ihre Hand wieder loszulassen.
Wie geplant brechen wir direkt zu einem kleinen Spaziergang auf. Sookie raucht - ich erzähle, dass ich aufgehört habe. Smalltalk, Eis brechen, Nervosität besiegen.
Wir stehen an der Ampel am Ring. Und dann gibt es diese zwei, drei Sekunden, in denen alle Verkehrsteilnehmer Rot haben. Alles steht, wartet, guckt. Guckt auf mich und Sookie!
Zumindest empfinde ich es so. Ich zwinge mich, die Blicke zu ignorieren. Dann überqueren wir die Straße, es wird ruhiger um uns herum.
Ich hatte mir im Kopf Stichpunkte für das Gespräch zurechtgelegt, angefangen bei Geburt, Kindheit, Schule und so weiter... Ich hätte es besser direkt gelassen. Alles weg.
Schnell merke ich: `Das hier folgt keinem Plan, keiner Regel. Einfach los und überraschen lassen.`
Noch bevor wir den Ring hinter uns lassen, erfahre ich, dass Sookie seit 16 Jahren trocken ist - sie trinkt nicht mehr. Irgendwann ist sie ins Krankenhaus gegangen, hat sich behandeln lassen. Ihre damalige Blutalkoholkonzentration hätte so mancher wohl nicht heile überstanden. Schon als Jugendlicher hätte sie begonnen, sich an den Alkohol zu gewöhnen, sagt sie.
Sookie wurde in Münster geboren. Mit 18 Jahren heiratet sie und bekommt eine Tochter. Aber zur Welt bringt diese Tochter nicht Sookie, sondern ihre damalige Frau.
Denn Sookie war nicht immer Sookie. Zum Zeitpunkt ihrer Ehe und Geburt ihrer Tochter war Sookie ein Mann. Aus anatomischer Sicht ist sie das auch jetzt noch - sie wartet sehnsüchtig auf einen Termin für die geschlechtsangleichende Operation, die in naher Zukunft erfolgen soll.
Aber wer Sookie trifft, der sieht und erlebt eine stolze Frau.
Nach vier Jahren Ehe erfolgt die Scheidung - mit ihrer Transsexualität habe das nichts zu tun gehabt, erzählt Sookie mir. Inzwischen hat sie vier Enkel, die aber nicht in Münster leben. Den Kontakt zu ihrer Tochter beschreibt Sookie als "momentan kritisch".
Nach der Geburt ihrer Tochter und der Scheidung hat sich Sookie mit 24 Jahren sterilisieren lassen. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal Vater werden. "Wenn überhaupt nochmal Kinder, dann als Mama.", erzählt sie lächelnd. Der Gedanke daran wäre durchaus hin und wieder aufgekeimt. Aber momentan ist ihr größter Wunsch die Operation.
Vor ihrer "Geburt", wie Sookie ihren Start in das Leben als Frau beschreibt, ging es immer wieder auf und ab in ihrem Leben. Ein Job jagte den nächsten, nie fühlte sie sich so richtig angekommen. Von Betonsanierung,über einen Kurs an der Uni zu Individualpsychologie, bis hin zur Kasse am Jovel hat sie weit über 100 Jobs gemacht, erzählt mir Sookie. Auch wäre sie für einige Zeit für eine Bäckerei auf den Markt gefahren.
 "Die haben mir kurz die Brotsorten und Preise erklärt, aber das konnte ich mir so schnell gar nicht merken." Von den Kundinnen auf dem Markt habe sie dann immer den Namen des Brotes und den passenden Preis erfahren.
Zehn Jahre ihres Lebens hat Sookie in Dortmund verbracht. Dort hat sie unter anderem in der Unternehmensberatung gearbeitet. "In Münster aus dem Zug zu steigen hat sich dann immer etwas angefühlt, wie in der Landschaft einer Modelleisenbahn zu stehen.", erzählt sie mir. "In Dortmund sind die Häuser ja viel höher."
Letztendlich hat es Sookie dann doch zurück nach Münster gezogen. Und sie fühlt sich sichtlich wohl. Münster sei ein "richtiger Glücksfall" und ihr "kleines Paradies", strahlt sie.
Nun ist Sookie Ende 50 und hat ihr Leben nochmal so richtig umgekrempelt.
"Vor vier Jahren kam plötzlich der Moment, in dem ich mich hingesetzt und mir die Frage gestellt habe, was eigentlich mit mir los ist." Da habe sie sich plötzlich als kleinen Jungen in den Kleidern seiner Mutter vor dem Spiegel stehen sehen und es sei ihr wie Schuppen von den Augen gefallen.
Sookie beschreibt diesen Moment und was dann folgt wie eine Erlösung. Man kann die Erleichterung von damals fast spüren. Endlich habe sie gewusst, was sie jahrelang so gequält hat. Sie macht Nägel mit Köpfen, schmeißt alle ihre Männerklamotten in den Müll. Gefragt, ob sie jemand haben möchte, habe sie nicht. "Ich wollte, dass die weg sind.", sagt sie.
Dann hat sie sich mit der Vielfalt der Damenmode beschäftigt. Im Internet findet Sookie nach und nach alles, was sie braucht.
Irgendwann beginnt sie, Hormone zu nehmen. Man merkt ihr heute noch an, wie beeindruckt sie von der Veränderung ist, die dann stattfindet. Früher ein leidenschaftlicher Fussballfan, möchte sie heute lieber die Blumen machen, als im Fernsehen ein Pokalspiel zu verfolgen. Es ist ihr einfach egal geworden. Wenn sie anderen Frauen von der vermeintlich entdeckten Orangenhaut am Bein erzählt und diese ihre Begeisterung nicht ganz teilen, wundert sie sich. Für Sookie ist das Teil ihrer Weiblichkeit.
"Durch die Hormone hat sich meine Gefühlswelt komplett neu strukturiert.", beschreibt sie die Veränderung. Als äußeres Zeichen dieser Veränderung trägt Sookie auf ihrem Dekolleté das Tattoo einer Lotusblüte, aus der Schmetterlinge empor steigen. Für sie der Inbegriff von Ursprung und Metamorphose.
Wenn man Sookie erzählen hört, ihr dabei ins Gesicht schaut und begreift, wie lange sie warten musste, bis sie den Schritt zur heutigen Sookie wagen konnte, dann trifft es das Bild von der Raupe, aus der ein bunter Schmetterling wird, ziemlich genau.
Vor ihrer "Geburt" kam es immer wieder zu Beziehungen mit Frauen. Aber Sookie verliebt sich nicht richtig. "Die waren immer nur hübsch. Und da konnte es schnell passieren, dass direkt eine andere kam, die auch hübsch war.", beschreibt sie die Art ihrer Kontakte zu Frauen.
Mit ihrem Leben als Frau beginnt für Sookie auch eine neue Form der Sexualität. Auf der Suche danach ging sie viele Wege. "Das war nicht immer ganz harmlos und ungefährlich.", sagt sie selbst. Sie ließ sich mit Männern ein, die auf der Suche nach einem Abenteuer und vielleicht auch etwas nach ihrer eigenen sexuellen Identität waren. Sie nahm große Risiken und weite Wege auf sich, in der Hoffnung, dass mit dem nächsten Sex vielleicht auch etwas Geborgenheit kommen würde.
Inzwischen - das merkt man Sookie an - hat sich ihr Fokus verschoben. Nichts möchte sie mehr, als den Schritt der geschlechtsangleichenden Operation zu gehen.
Als ich sie frage, ob es die Regel sei, dass sich Transsexuelle in ihrem Alter zu einer Operation und einem Neuanfang entscheiden, erzählt sie mir von einer Selbsthilfegruppe, mit der sie sich einige Male in Münster getroffen hat. Dort habe sie sehr junge Menschen getroffen, die ähnliche Geschichten haben. Heutzutage ginge dieser Prozess in der Regel viel früher los. Als sie mir von den jungen Mädchen aus der Selbsthilfegruppe erzählt, die sich in ihrer Verzweiflung oftmals ritzen, oder gar umbringen, merkt man an ihrer Stimme und den feuchten Augen, wie nah ihr diese Geschichten gehen und wie sehr sie selbst nachfühlen kann, was mit diesen Menschen geschieht.
Sookie erzählt mir, wie schwierig es für sie selbst zu Beginn war, ihre Identität offen zu leben und zu zeigen. "Die Leute haben gelacht und mich angeguckt. Ich wusste ja nie, ob die mich anlachen, oder sich lustig machen."
 Ja, die Leute gucken und die Leute grinsen, das kann ich bestätigen. Und dennoch bin ich mir sicher, dass Sookie sehr viel souveräner damit umgehen kann, als ich. "Wenn es sein muss, leiste ich auch mal Aufklärungsarbeit.", beschreibt sie ihre Reaktion auf zu intensives Lachen, oder Tuscheln anderer. Sookies offene, mutige Art beeindruckt mich!
Aber ich glaube auch, dass es ein langer Weg hin zu diesem Selbstbewusstsein war. Sookie erzählt mir von heftigem Mobbing, von verbalen und körperlichen Attacken. Einmal habe sie auf Krücken gehen müssen, weil sie beide Beine verdreht hatte.
Das hat Sookie geprägt. Nachdem sich oftmals auch Bekannte und Freunde zurückgezogen haben, fällt es ihr schwer, neue Bindungen einzugehen. Sookie ist skeptisch geworden, was die Loyalität von Menschen angeht.
"Aber", erzählt sie strahlend, "mein alltägliches Umfeld, wenn ich einkaufen, oder zum Blumenladen gehe, hat mich inzwischen mehr als akzeptiert. Die bringen mir große Wertschätzung entgegen."
Für mich ist das ein beeindruckendes Bild dafür, dass wir uns öfter mit den Menschen unterhalten sollten, anstatt ihnen vom ersten Moment an einen Stempel aufzudrücken... Ich freue mich für Sookie und dass sie in einer toleranten Umgebung leben darf.
Während wir auf einer Bank sitzen und reden, fährt ein Vater mit seinen zwei Kindern auf dem Fahrrad an uns vorbei. Ich frage Sookie, ob sie Situationen erlebt, in denen Eltern ihre Kinder von ihr wegziehen, oder vor ihr warnen.
"Die machen das viel geschickter, vielleicht sogar unbewusst.", entgegnet sie. "Wenn mir eine Mutter mit ihrem Kind entgegenkommt, bringt sie es oftmals in den "toten Winkel" hinter sich, sodass es mich nicht und ich es nicht sehen kann." Ich bin beeindruckt, welches Gespür Sookie für die Menschen und ihre Reaktionen entwickelt hat.
Kinder an sich würden aber immer ganz unbefangen und freundlich auf sie reagieren, erzählt sie. Ich wünsche mir, dass ihre Eltern sich das von ihnen abgucken würden.
Wir machen uns auf den Rückweg.
Ich frage Sookie nach ihrer Lieblingsfarbe. Es platzt förmlich aus ihr heraus:
"PINK! GLITZER UND PINK!"
Ich bin nicht überrascht, das passt zu Sookie. Sie möchte sich gar nicht mehr verstecken, nicht mehr rechtfertigen, oder anpassen. Sie möchte sie selbst sein, Frau sein, Sookie sein!
Den Namen "Sookie" hat sie übrigens ganz bewusst gewählt. Als Vorbild hat sie sich Sookie aus der Serie "True Blood" genommen. Die sei ein wenig wie Pippi Langstrumpf, schmunzelt sie.
Als ich sie danach frage, erzählt mir Sookie, dass sie ca. 30 Perücken besitzt. Anfangs habe sie es mit ihrem echten Haar und Kuren versucht, aber schnell gemerkt, dass Perücken den unschlagbaren Vorteil einer schier unendlichen Auswahl und Vielfalt bieten. Es gibt Sookie mit blonden, dunklen, glatten und welligen Haaren. Dafür werden sie viele Frauen beneiden.
Wieder stehen wir an der Ampel am Ring. Ich frage Sookie, ob sie Angst habe, irgendwann wieder mit dem Trinken zu beginnen. Hat sie nicht. Sie kenne das Risiko und sie würde es meiden. Eine herrlich einfache Antwort und doch so einleuchtend.
Ob sie überhaupt vor irgendetwas Angst habe, hake ich nach. Sie überlegt. Nein, da fiele ihr momentan nichts ein. Früher hätte sie vielleicht auch Dinge wie den Tod genannt. Aber es passiert ja ohnehin, was passiert. Sookie ist gelassen geworden.
In Zukunft wird sich Sookie weiterhin dem Schreiben von Gedichten widmen. Sie ist Mitglied im Verband deutscher Schriftstellerinnen - dazu zeigt sie mir bei unserer Verabschiedung ihren Schriftstellerausweis. Darin das Foto einer blonden Sookie und ihr Name. Darüber ist sie sehr glücklich. "Die haben verstanden, worum es mir geht.", betont sie. Sookie lebt ihr Frau sein und so möchte sie auch von anderen gesehen und verstanden werden.
Zum Ende unserer Begegnung habe ich fast schon ein schlechtes Gewissen.
Sookie, ich weiß, dass ich mit diesen Zeilen nur einen winzigen Teil deiner Geschichte erzählt habe. Es ist - so glaube ich - fast unmöglich, einem Menschen wie dir mit so einem Artikel gerecht zu werden. Vielleicht schreibst du ja irgendwann selbst ein Buch über dich. Ich bin mir sicher, es wäre eine große Hilfe und ein toller Leitfaden für alle, die sich ein Vorbild an deinem Weg nehmen möchten.
Ich danke dir für deine Zeit, für deine große, beeindruckende Offenheit und für dein Vertrauen!
 Und ich wünsche dir für die Zukunft alles Gute! Schön, dass es Menschen wie dich gibt, die uns zeigen, dass es nie zu spät ist!

Danke Sookie










Mittwoch, 28. Oktober 2015

Jojo

Es ist später Nachmittag.
Ich ziehe schon einige Zeit durch die Stadt. Die Kamera in der Hand, die Augen suchend. Ich suche ihn, sie... Ich weiß es eigentlich nicht. Wenn ich ehrlich bin, dann suche ich möglicherweise auch den Mut, überhaupt jemanden anzusprechen.
Wie soll das gehen? Was soll ich nur sagen?
Ich bin nervös, die Sonne geht gleich unter und ich will es morgen nochmal versuchen. Mit einem Plan in der Hinterhand, einem Konzept, möglicherweise schon einem fertigen Bild im Kopf.
Um den Frust etwas zu dämpfen, versuche ich noch ein paar coole Schnappschüsse zu produzieren. Ich drehe mich hin und her, drücke drei, vier Mal den Auslöser und bleibe dann mit dem Blick am Eingang der Lambertikirche hängen.
Der Typ, der dort neben der Tür auf seinem Rucksack kauert, die Knie angezogen und den Blick gesenkt, macht mich neugierig.
Ich beobachte ihn eine Weile - denke darüber nach ihn direkt anzusprechen. Wieder traue ich mich nicht.
Auch wenn er sitzt, kann man deutlich erkennen, dass er ein ganz schöner Hüne ist. Seinen Kopf ziert ein Tuch mit Totenköpfen und unter seiner Lederjacke trägt er mindestens noch einen Pullover und ein Hemd. Kein Wunder, es wird empfindlich frisch.
Eine ältere Dame geht auf den Eingang zu. Da springt der Typ plötzlich auf, öffnet ihr die Kirchentür und setzt sich direkt wieder. Ich muss lächeln. Das Spiel wiederholt sich einige Male. Ein Mann mit Rollator, eine Dame mit Kinderwagen... Der Hüne steht auf, öffnet die Tür, kommt zurück und setzt sich wieder. Der Entschluss ist gefasst, ich will ihn kennenlernen.
"Entschuldigung, kann ich Sie kurz stören?" "Sicher.", ist seine kurze, aber höfliche Antwort.Ich hocke mich neben ihn und versuche ihm ziemlich wackelig und unbeholfen mein Anliegen zu vermitteln.
Ob das für ihn in Ordnung wäre...?
Ein bisschen von sich erzählen...
Ein paar Bilder machen vielleicht auch?
"Sicher, warum nicht!" Wieder kurz, aber höflich und mit einem sympathischen Lächeln. Auf meine Frage, wie sein Name sei, erklärt er, auf der Straße würde man ihn Jojo nennen. Ich frage nicht nach seinem richtigen Namen, verrate ihm meinen und biete ihm, obwohl er älter ist, das "Du" an. Er willigt ein, bis dahin hat er mich gesiezt. Er entschuldigt sich, steht auf und geht ein paar Schritte zur Seite. Dann holt er eine selbst gedrehte Zigarette raus und zündet sie an. Müsse ja nicht direkt vorm Eingang sein, erklärt mir Jojo. Dann fängt er an zu erzählen. Jojo ist 44 Jahre jung und gebürtig aus Thüringen. Gelebt hat er aber die meiste Zeit in Rheinland-Pfalz. Dort hat er eine Ausbildung zum Zimmermann gemacht, seine damalige Frau kennengelernt und geheiratet. Mit seiner Frau und deren Mutter habe er in seinem Haus gewohnt, bis vor 17 Jahren alles in die Brüche ging. Dann wäre alles gelaufen, wie es zahlreiche Klischees beschreiben würden. Den "klassischen Penner" nennt sich Jojo selbst. Erst Job, dann auch die Frau verloren. Die Schwiegermutter sei nicht ganz unschuldig, sagt er. Es entsteht eine Pause.
Ich versuche im Kopf die nächste Frage zu formulieren, da unterbricht mich Jojo: "Ich mach jetzt mal knallhart den Obdachlosen.", sagt er. "Haste gleich trotzdem noch 'nen Eu?" 
Ich muss lachen, der Kerl hat gelernt, sich durchzuschlagen. Statt direkt das Kleingeld in die kleine Schüssel neben seinem großen, schwarzen Rucksack zu befördern, schlage ich Jojo vor, kurz loszugehen und uns einen Kaffee zu besorgen. Seine Augen fangen an zu leuchten, er freut sich tierisch. Also mache ich noch schnell zwei, drei Bilder von ihm, dann stapfe ich los und lasse ihn mit seiner vierten Kippe seit Gesprächsbeginn allein. Im Weggehen überlege ich, ob er überhaupt glaubt, dass ich zurück komme... Beim Kaffeeröster um die Ecke kaufe ich zwei große Kaffee und ein Stück Käsekuchen. Jojo hat mir erzählt, das Wichtigste für ihn wären Nahrung und Kippen. Ein Päckchen Tabak würde er pro Tag verbrauchen. Er bettelt nie, nimmt nur was die Leute ihm freiwillig geben. Das glaube ich ihm sofort.
Jojo will nicht nerven, Jojo will nett sein. 
Als ich mit Kaffee und Kuchen zurück zur Kirche komme, ist ihm deutlich anzumerken, dass das ganz und gar nicht alltäglich für ihn ist. Ihm fehlen ein wenig die Worte, so wie mir zu Beginn unserer Bekanntschaft. Ich freue mich darüber, dass er sich über den Kaffee freut und muss grinsen, als er sich trotzdem lieber erst noch eine Kippe dreht. Als Jojo vor 17 Jahren keine Perspektive mehr für sich sah, hat er sich seinen Labrador geschnappt und ist einfach losgezogen. All sein Hab und Gut sei in dem schwarzen Rucksack, erzählt er. Oben drauf noch eine Iso-Matte, der Rest im Innern verstaut. Ich frage nicht, was er alles dabei hat, will auch nicht in den Rucksack sehen. Das ist wohl das letzte bisschen Privatsphäre, das Jojo noch hat. Ein schwarzer, abgewetzter Rucksack mit Iso-Matte. Sein Labrador ist vor ein paar Monaten gestorben. Seitdem ist Jojo allein unterwegs. Er sei ohnehin Einzelgänger und einen neuen Hund will er nicht. Den würde er dann immer mit seinem alten vergleichen. Wie könnte es anders sein, wenn man über 15 Jahre seines Lebens nur mit einem Hund auf der Straße verbracht hat... Dann finde ich heraus, dass Jojo eigentlich nur auf der Durchreise ist. Er sei immer mal wieder in Münster, aber eigentlich lässt er sich überraschen, wohin es ihn verschlägt. Nur Bayern, das geht gar nicht, sagt er. Die wären da einfach zu komisch. Mit den Münsteranern könne er wenigstens noch reden. Sein letzter Besuch in Münster ist immerhin sechs Jahre her. Aber nun ist er hier, also gehört er auch dazu! Ich frage ihn, was aus seinem Haus geworden sei. Er weiß es nicht. Und es ist ihm auch egal, sagt er. Er habe sich einfach nicht mehr darum gekümmert. Die Einzige, zu der er noch Kontakt hat, ist seine Mutter. Da muss er auch bald mal hin, sagt Jojo. Mama wird nämlich 70 und das wäre ja dann Pflicht. Wieder muss ich schmunzeln. Dann frage ich Jojo, was er macht wenn er krank wird. Das Thema ist allerdings schnell abgehakt. Klar, er war schon oft krank, sagt er. Und "zerlegt" wurde er auch schon so einige Male. Einmal habe man ihn sogar nachts samt Schlafsack in die Weser geworfen. Und vor einigen Tagen haben sie ihn auch in Münster "zerlegt", erzählt er mir. "Aber so ist das halt. Bevor ich den Kopf nicht unter dem Arm trage, gehe ich auch nicht ins Krankenhaus." Ich frage mich, ob das der Stolz eines Kerls ist, der schon Schlimmeres erlebt hat, oder ob Jojo einfach niemandem zur Last fallen möchte. Unser Gespräch wird immer wieder unterbrochen. Jojo muss vielen Leuten die Tür öffnen. Das würde sich ja wohl so gehören und sei für ihn das Mindestmaß an Anstand, kommentiert er sein Tun. Zum Abschluss erzählt er mir noch, dass er sogar eine Anschrift hier in Münster hätte, ihm das aber auch ziemlich egal sei. Ich glaube nicht, dass Jojo jemals nach seiner Post gesehen hat. Ein altes Handy hätte er, ohne Internet und solchen Schnickschnack. Aber er ist froh, dass er für seine wenigen Bekannten überhaupt erreichbar ist. Dann verabschiede ich mich von ihm. Er ist traurig darüber, das kann er nicht verstecken. Aber Jojo ist auch dankbar. Sehr sogar! Als ich gehe bin ich froh, ihn kennengelernt zu haben. Es hat mich ein paar Minuten und einen Kaffee gekostet. Aber es erweitert den Horizont ungemein. Und auch, wenn der gute Jojo vielleicht so manches kleine Detail nicht erzählt, oder ein anderes beschönigt hat, so legt er sich heute Nacht doch wieder auf seine alte Iso-Matte und muss aufpassen, dass er nicht im Schlaf "zerlegt" wird. Ein bisschen hat er sich diesen Weg ausgesucht, sagt er selbst. Tauschen möchte ich nicht mit ihm. 
Aber vielleicht ist seine Welt manchmal trotzdem ein klein wenig ehrlicher als unsere. 

Danke Jojo