Freitag, 30. Oktober 2015

Sookie

Wir sind verabredet, ich bin zu früh. Ich bleibe noch einen Moment im Auto sitzen, den vereinbarten Treffpunkt in Sichtweite. In meinem Kopf rauscht es, ein Gedanke jagt den anderen. Sie hat mir geschrieben, dass sie aufgeregt ist. Dass ich es auch bin, habe ich verschwiegen - bitte entschuldige diese kleine Unehrlichkeit.
Dann steht der große Zeiger auf der Sechs. Ich steige aus, schnappe mir meine Kamera, das kleine Notizbuch und einen Stift. Alles, was ich zuvor von ihr gesehen habe, ist ein Profilbild bei Facebook. Ich erkenne sie schon von Weitem. Minirock, Stiefel, über dem grünen Top eine pinke Jacke. Im Haar eine Blüte in der Farbe der Jacke und um den Hals ein buntes Tuch.
Da ich mir in meiner grauen Strickjacke und den Jeans etwas unauffälliger vorkomme, gebe ich mich durch Winken zu erkennen - sie kommt mir entgegen. Als Sookie vor mir steht und ich ihr die Hand reiche, bin ich so beeindruckt von dieser Erscheinung, dass ich für einen kurzen Moment vergesse, ihre Hand wieder loszulassen.
Wie geplant brechen wir direkt zu einem kleinen Spaziergang auf. Sookie raucht - ich erzähle, dass ich aufgehört habe. Smalltalk, Eis brechen, Nervosität besiegen.
Wir stehen an der Ampel am Ring. Und dann gibt es diese zwei, drei Sekunden, in denen alle Verkehrsteilnehmer Rot haben. Alles steht, wartet, guckt. Guckt auf mich und Sookie!
Zumindest empfinde ich es so. Ich zwinge mich, die Blicke zu ignorieren. Dann überqueren wir die Straße, es wird ruhiger um uns herum.
Ich hatte mir im Kopf Stichpunkte für das Gespräch zurechtgelegt, angefangen bei Geburt, Kindheit, Schule und so weiter... Ich hätte es besser direkt gelassen. Alles weg.
Schnell merke ich: `Das hier folgt keinem Plan, keiner Regel. Einfach los und überraschen lassen.`
Noch bevor wir den Ring hinter uns lassen, erfahre ich, dass Sookie seit 16 Jahren trocken ist - sie trinkt nicht mehr. Irgendwann ist sie ins Krankenhaus gegangen, hat sich behandeln lassen. Ihre damalige Blutalkoholkonzentration hätte so mancher wohl nicht heile überstanden. Schon als Jugendlicher hätte sie begonnen, sich an den Alkohol zu gewöhnen, sagt sie.
Sookie wurde in Münster geboren. Mit 18 Jahren heiratet sie und bekommt eine Tochter. Aber zur Welt bringt diese Tochter nicht Sookie, sondern ihre damalige Frau.
Denn Sookie war nicht immer Sookie. Zum Zeitpunkt ihrer Ehe und Geburt ihrer Tochter war Sookie ein Mann. Aus anatomischer Sicht ist sie das auch jetzt noch - sie wartet sehnsüchtig auf einen Termin für die geschlechtsangleichende Operation, die in naher Zukunft erfolgen soll.
Aber wer Sookie trifft, der sieht und erlebt eine stolze Frau.
Nach vier Jahren Ehe erfolgt die Scheidung - mit ihrer Transsexualität habe das nichts zu tun gehabt, erzählt Sookie mir. Inzwischen hat sie vier Enkel, die aber nicht in Münster leben. Den Kontakt zu ihrer Tochter beschreibt Sookie als "momentan kritisch".
Nach der Geburt ihrer Tochter und der Scheidung hat sich Sookie mit 24 Jahren sterilisieren lassen. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal Vater werden. "Wenn überhaupt nochmal Kinder, dann als Mama.", erzählt sie lächelnd. Der Gedanke daran wäre durchaus hin und wieder aufgekeimt. Aber momentan ist ihr größter Wunsch die Operation.
Vor ihrer "Geburt", wie Sookie ihren Start in das Leben als Frau beschreibt, ging es immer wieder auf und ab in ihrem Leben. Ein Job jagte den nächsten, nie fühlte sie sich so richtig angekommen. Von Betonsanierung,über einen Kurs an der Uni zu Individualpsychologie, bis hin zur Kasse am Jovel hat sie weit über 100 Jobs gemacht, erzählt mir Sookie. Auch wäre sie für einige Zeit für eine Bäckerei auf den Markt gefahren.
 "Die haben mir kurz die Brotsorten und Preise erklärt, aber das konnte ich mir so schnell gar nicht merken." Von den Kundinnen auf dem Markt habe sie dann immer den Namen des Brotes und den passenden Preis erfahren.
Zehn Jahre ihres Lebens hat Sookie in Dortmund verbracht. Dort hat sie unter anderem in der Unternehmensberatung gearbeitet. "In Münster aus dem Zug zu steigen hat sich dann immer etwas angefühlt, wie in der Landschaft einer Modelleisenbahn zu stehen.", erzählt sie mir. "In Dortmund sind die Häuser ja viel höher."
Letztendlich hat es Sookie dann doch zurück nach Münster gezogen. Und sie fühlt sich sichtlich wohl. Münster sei ein "richtiger Glücksfall" und ihr "kleines Paradies", strahlt sie.
Nun ist Sookie Ende 50 und hat ihr Leben nochmal so richtig umgekrempelt.
"Vor vier Jahren kam plötzlich der Moment, in dem ich mich hingesetzt und mir die Frage gestellt habe, was eigentlich mit mir los ist." Da habe sie sich plötzlich als kleinen Jungen in den Kleidern seiner Mutter vor dem Spiegel stehen sehen und es sei ihr wie Schuppen von den Augen gefallen.
Sookie beschreibt diesen Moment und was dann folgt wie eine Erlösung. Man kann die Erleichterung von damals fast spüren. Endlich habe sie gewusst, was sie jahrelang so gequält hat. Sie macht Nägel mit Köpfen, schmeißt alle ihre Männerklamotten in den Müll. Gefragt, ob sie jemand haben möchte, habe sie nicht. "Ich wollte, dass die weg sind.", sagt sie.
Dann hat sie sich mit der Vielfalt der Damenmode beschäftigt. Im Internet findet Sookie nach und nach alles, was sie braucht.
Irgendwann beginnt sie, Hormone zu nehmen. Man merkt ihr heute noch an, wie beeindruckt sie von der Veränderung ist, die dann stattfindet. Früher ein leidenschaftlicher Fussballfan, möchte sie heute lieber die Blumen machen, als im Fernsehen ein Pokalspiel zu verfolgen. Es ist ihr einfach egal geworden. Wenn sie anderen Frauen von der vermeintlich entdeckten Orangenhaut am Bein erzählt und diese ihre Begeisterung nicht ganz teilen, wundert sie sich. Für Sookie ist das Teil ihrer Weiblichkeit.
"Durch die Hormone hat sich meine Gefühlswelt komplett neu strukturiert.", beschreibt sie die Veränderung. Als äußeres Zeichen dieser Veränderung trägt Sookie auf ihrem Dekolleté das Tattoo einer Lotusblüte, aus der Schmetterlinge empor steigen. Für sie der Inbegriff von Ursprung und Metamorphose.
Wenn man Sookie erzählen hört, ihr dabei ins Gesicht schaut und begreift, wie lange sie warten musste, bis sie den Schritt zur heutigen Sookie wagen konnte, dann trifft es das Bild von der Raupe, aus der ein bunter Schmetterling wird, ziemlich genau.
Vor ihrer "Geburt" kam es immer wieder zu Beziehungen mit Frauen. Aber Sookie verliebt sich nicht richtig. "Die waren immer nur hübsch. Und da konnte es schnell passieren, dass direkt eine andere kam, die auch hübsch war.", beschreibt sie die Art ihrer Kontakte zu Frauen.
Mit ihrem Leben als Frau beginnt für Sookie auch eine neue Form der Sexualität. Auf der Suche danach ging sie viele Wege. "Das war nicht immer ganz harmlos und ungefährlich.", sagt sie selbst. Sie ließ sich mit Männern ein, die auf der Suche nach einem Abenteuer und vielleicht auch etwas nach ihrer eigenen sexuellen Identität waren. Sie nahm große Risiken und weite Wege auf sich, in der Hoffnung, dass mit dem nächsten Sex vielleicht auch etwas Geborgenheit kommen würde.
Inzwischen - das merkt man Sookie an - hat sich ihr Fokus verschoben. Nichts möchte sie mehr, als den Schritt der geschlechtsangleichenden Operation zu gehen.
Als ich sie frage, ob es die Regel sei, dass sich Transsexuelle in ihrem Alter zu einer Operation und einem Neuanfang entscheiden, erzählt sie mir von einer Selbsthilfegruppe, mit der sie sich einige Male in Münster getroffen hat. Dort habe sie sehr junge Menschen getroffen, die ähnliche Geschichten haben. Heutzutage ginge dieser Prozess in der Regel viel früher los. Als sie mir von den jungen Mädchen aus der Selbsthilfegruppe erzählt, die sich in ihrer Verzweiflung oftmals ritzen, oder gar umbringen, merkt man an ihrer Stimme und den feuchten Augen, wie nah ihr diese Geschichten gehen und wie sehr sie selbst nachfühlen kann, was mit diesen Menschen geschieht.
Sookie erzählt mir, wie schwierig es für sie selbst zu Beginn war, ihre Identität offen zu leben und zu zeigen. "Die Leute haben gelacht und mich angeguckt. Ich wusste ja nie, ob die mich anlachen, oder sich lustig machen."
 Ja, die Leute gucken und die Leute grinsen, das kann ich bestätigen. Und dennoch bin ich mir sicher, dass Sookie sehr viel souveräner damit umgehen kann, als ich. "Wenn es sein muss, leiste ich auch mal Aufklärungsarbeit.", beschreibt sie ihre Reaktion auf zu intensives Lachen, oder Tuscheln anderer. Sookies offene, mutige Art beeindruckt mich!
Aber ich glaube auch, dass es ein langer Weg hin zu diesem Selbstbewusstsein war. Sookie erzählt mir von heftigem Mobbing, von verbalen und körperlichen Attacken. Einmal habe sie auf Krücken gehen müssen, weil sie beide Beine verdreht hatte.
Das hat Sookie geprägt. Nachdem sich oftmals auch Bekannte und Freunde zurückgezogen haben, fällt es ihr schwer, neue Bindungen einzugehen. Sookie ist skeptisch geworden, was die Loyalität von Menschen angeht.
"Aber", erzählt sie strahlend, "mein alltägliches Umfeld, wenn ich einkaufen, oder zum Blumenladen gehe, hat mich inzwischen mehr als akzeptiert. Die bringen mir große Wertschätzung entgegen."
Für mich ist das ein beeindruckendes Bild dafür, dass wir uns öfter mit den Menschen unterhalten sollten, anstatt ihnen vom ersten Moment an einen Stempel aufzudrücken... Ich freue mich für Sookie und dass sie in einer toleranten Umgebung leben darf.
Während wir auf einer Bank sitzen und reden, fährt ein Vater mit seinen zwei Kindern auf dem Fahrrad an uns vorbei. Ich frage Sookie, ob sie Situationen erlebt, in denen Eltern ihre Kinder von ihr wegziehen, oder vor ihr warnen.
"Die machen das viel geschickter, vielleicht sogar unbewusst.", entgegnet sie. "Wenn mir eine Mutter mit ihrem Kind entgegenkommt, bringt sie es oftmals in den "toten Winkel" hinter sich, sodass es mich nicht und ich es nicht sehen kann." Ich bin beeindruckt, welches Gespür Sookie für die Menschen und ihre Reaktionen entwickelt hat.
Kinder an sich würden aber immer ganz unbefangen und freundlich auf sie reagieren, erzählt sie. Ich wünsche mir, dass ihre Eltern sich das von ihnen abgucken würden.
Wir machen uns auf den Rückweg.
Ich frage Sookie nach ihrer Lieblingsfarbe. Es platzt förmlich aus ihr heraus:
"PINK! GLITZER UND PINK!"
Ich bin nicht überrascht, das passt zu Sookie. Sie möchte sich gar nicht mehr verstecken, nicht mehr rechtfertigen, oder anpassen. Sie möchte sie selbst sein, Frau sein, Sookie sein!
Den Namen "Sookie" hat sie übrigens ganz bewusst gewählt. Als Vorbild hat sie sich Sookie aus der Serie "True Blood" genommen. Die sei ein wenig wie Pippi Langstrumpf, schmunzelt sie.
Als ich sie danach frage, erzählt mir Sookie, dass sie ca. 30 Perücken besitzt. Anfangs habe sie es mit ihrem echten Haar und Kuren versucht, aber schnell gemerkt, dass Perücken den unschlagbaren Vorteil einer schier unendlichen Auswahl und Vielfalt bieten. Es gibt Sookie mit blonden, dunklen, glatten und welligen Haaren. Dafür werden sie viele Frauen beneiden.
Wieder stehen wir an der Ampel am Ring. Ich frage Sookie, ob sie Angst habe, irgendwann wieder mit dem Trinken zu beginnen. Hat sie nicht. Sie kenne das Risiko und sie würde es meiden. Eine herrlich einfache Antwort und doch so einleuchtend.
Ob sie überhaupt vor irgendetwas Angst habe, hake ich nach. Sie überlegt. Nein, da fiele ihr momentan nichts ein. Früher hätte sie vielleicht auch Dinge wie den Tod genannt. Aber es passiert ja ohnehin, was passiert. Sookie ist gelassen geworden.
In Zukunft wird sich Sookie weiterhin dem Schreiben von Gedichten widmen. Sie ist Mitglied im Verband deutscher Schriftstellerinnen - dazu zeigt sie mir bei unserer Verabschiedung ihren Schriftstellerausweis. Darin das Foto einer blonden Sookie und ihr Name. Darüber ist sie sehr glücklich. "Die haben verstanden, worum es mir geht.", betont sie. Sookie lebt ihr Frau sein und so möchte sie auch von anderen gesehen und verstanden werden.
Zum Ende unserer Begegnung habe ich fast schon ein schlechtes Gewissen.
Sookie, ich weiß, dass ich mit diesen Zeilen nur einen winzigen Teil deiner Geschichte erzählt habe. Es ist - so glaube ich - fast unmöglich, einem Menschen wie dir mit so einem Artikel gerecht zu werden. Vielleicht schreibst du ja irgendwann selbst ein Buch über dich. Ich bin mir sicher, es wäre eine große Hilfe und ein toller Leitfaden für alle, die sich ein Vorbild an deinem Weg nehmen möchten.
Ich danke dir für deine Zeit, für deine große, beeindruckende Offenheit und für dein Vertrauen!
 Und ich wünsche dir für die Zukunft alles Gute! Schön, dass es Menschen wie dich gibt, die uns zeigen, dass es nie zu spät ist!

Danke Sookie










1 Kommentar:

  1. Vielen Dank für diesen schönen mutigen und ermutigenden Einblick in das Leben eines besonderen Menschen!

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